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Die Kunst der Bewegung

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April 7, 2015

Eines Abends beobachtete ich meinen 2-jährigen Sohn beim Spielen und stellte mit Erstaunen fest, wie lange er ohne Unterbrechung in einer tiefen Hockposition verharren kann. Ohne Probleme führte er dabei seine Hände weit über den Kopf oder hinter seinen Köper, um diverse Spielsachen zu greifen und fiel dabei kein einziges Mal um. Schwierige Bewegungen scheinen für ihn das natürlichste der Welt zu sein. Als ich am nächsten Morgen den Kraftraum betrat, fragte ich mich, wann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem meine Athletinnen und Athleten, aber auch ich und ein Großteil der Menschen, die ich kenne, diese elementaren Bewegungsformen verlernt haben oder nicht mehr in der Lage sind, diese auszuführen – ungeachtet der anthropometrischen Unterschiede zwischen Kind und Erwachsenem!

In letzter Zeit ist ein vielversprechender Trend in der Fitnessindustrie zu beobachten und die pure und vollkommen natürliche menschliche Bewegung steht dabei im Fokus. Training ohne Geräte und scheinbar einfache Übungen stehen im Mittelpunkt. Dies macht für mich auch im Spitzensport Sinn, denn Bewegung sollte der Grund sein dafür, warum wir trainieren. Wir verbringen so viel Zeit im Kraftraum, um an unseren persönlichen Rekorden zu arbeiten und uns zu verbessern, so dass wir oft wichtige Schlüsselelemente aber auch Grundvoraussetzungen für unsere Leistungsfähigkeit aus den Augen verlieren. Oft sind SportlerInnen nicht mehr fähig einfachste Bewegungsmuster auszuführen oder zu erlernen. Für erfahrene TrainerInnen und SportwissenschafterInnen mag dieser Anstoß logisch und zum Teil oberflächlich klingen. Trotzdem kann ich aus meiner Erfahrung behaupten, dass diese Basis im täglichen Umgang mit Athletinnen und Athleten nicht immer gelegt wird. Tiefe Hockpositionen sind nicht möglich, da es Hüft- und Sprunggelenksmobilität nicht zulassen. Ein Handstand oder das einfache aktive aber auch passive Hängen an Ringen kann nicht gemacht werden, da das Handgelenk schmerzt oder die Überkopf-Beweglichkeit der Schultern extrem eingeschränkt ist. Eine Rolle vorwärts ist kindisch! Was ich konkret damit sagen will: Ich möchte meine Athletinnen und Athleten keinesfalls zu Akrobaten ausbilden und diese Form des Trainings hat auch nichts mit Zirkuskünsten oder Partytricks zu tun, dennoch verlange ich das Erlernen und die Schulung verschiedenster Fähigkeiten, um das eigene Körperempfinden zu stärken und etwaige Schwachstellen aufzudecken.

Namen wie Ido Portal, Carl Paoli oder Kelly Starrett tauchen im Zusammenhang mit den Worten „Simple and Natural Movement Patterns“ immer wieder auf. Um zu verstehen, wie sich ein Mensch richtig bewegt und wie er sich bewegen soll, reicht es natürlich nicht „nur“ an der Oberfläche zu kratzen oder ihn stundenlang am Boden krabbeln zu lassen. Wichtige Gesetze der Biomechanik dürfen dabei nicht außer Acht gelassen werden und die Systematik in der Trainingssteuerung darf nicht verloren gehen. Dennoch bin ich der Meinung, dass – vereinfacht gesagt und zurückkommend auf meine Einleitung – jeder Mensch in der Lage sein sollte ohne Schmerzen, Einschränkungen oder diverse andere Problem eine gewisse Zeitspanne in der tiefen Hocke zu verbringen. Halten Sie einen Moment inne, stehen sie auf und versuchen Sie es! Wie weit können Sie ihr Gesäß Richtung Fersen absenken? Wie fühlt es sich an? Müssten Sie gar 20min aufwärmen, um diese außerordentliche Leistung zu vollbringen?

Legen wir nun diese gewonnene Erkenntnis auf unsere Spitzensportlerinnen und Spitzensportler um, wobei wir gleichzeitig damit konfrontiert werden, dass wir als Trainerinnen und Trainer die Leistung bei einer Hauptübung wie der Kniebeuge steigern sollen. Jedoch kann er oder sie aber nicht die nötige Beweglichkeit für eine angemessene Tiefe aufbringen und wir verschleiern dann mit Keilen, Gewichtheberschuhen oder anderen Hilfsmittel dieses Defizit. Dann müssen wir uns die Frage stellen, welche Folgen dieses Vorgehen mit sich ziehen wird? Natürlich können wir Gewicht zulegen und möglicherweise wird sich dies auch leistungssteigernd in der Zielsportart auswirken, dennoch behaupte ich, dass man das Problem nicht bei der Wurzel packt.

Das Komplizierte aber auch Schöne und ganz gewiss der Nährboden für unzählige Diskussionen in der Sportwissenschaft sind die vielfältigen Herangehensweisen bei trainingsspezifischen Problemstellungen. Um einen Satz für das Phrasenschwein los zu werden: „Viele Wege führen nach Rom!“ und in unserer Welt können viele verschiedene Trainingsmethoden zu Gold führen! Was ich aber mit Gewissheit sagen kann ist, dass immer die Gesundheit meiner Athletinnen und Athleten im Vordergrund steht. Das Arbeiten an einfachen und natürlichen Bewegungsmustern und die Vorbereitung und Schulung des Körpers auf hohe Reize erwies sich in meiner Trainertätigkeit immer als der richtige Weg und Ja, dies gehört zum Basiswissen einer jeden Trainerin und eines jeden Trainers.

Die Zielfähigkeit einer jeden Disziplin darf nie außer Acht gelassen werden, aber die Perfektion der Kunst der Bewegung gilt ausnahmslos in allen Sportarten!

von Christoph Ebenbichler